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Türsturz über der ehemaligen Rathauspforte

Nr. 13 - Feldpostbriefe aus dem 1. Weltkrieg

Berichte aus der Schlacht von La Bassee und Arras im Mai 1915

(Gerhard Kittelberger)

Seit dem 1. Weltkrieg ist nun fast ein Jahrhundert vergangen, und in der Zwischenzeit hat Deutschland auch das "Dritte Reich" und den 2. Weltkrieg durchlitten. Dennoch ist die Erinnerung an den 1. Weltkrieg noch in vielen Familien lebendig. Auch im öffentlichen Bewußtsein ist dieser Krieg und sein Ende durch den Waffenstillstand am 11. November 1918 gegenwärtig. Vor wenigen Tagen hat die Pressemeldung Aufsehen erregt, erstmals habe ein deutscher Regierungschef, Bundeskanzlerin Angela Merkel, an der französischen Gedenkfeier zum Ende des Weltkriegs vor 91 Jahren teilgenommen.

Viele Angehörige der älteren Generation können sich noch an Großväter oder andere Verwandte erinnern, die im Krieg gefallen sind oder mit Verletzungen überlebten. Auch die anderen Umwälzungen, die der verlorene Krieg verursachte, das Ende der Monarchie in Deutschland und die Inflation, wirken bis heute nach. Am lebendigsten werden für uns aber die Kriegserlebnisse einzelner Soldaten, wenn sie sie unmittelbar danach in einem Feldpostbrief geschildert haben. Solche Briefe führen uns eindringlich die tragischen Einzelschicksale vor Augen und verdeutlichen, welche erschütternden Vorgänge sich hinter der nüchternen, in Büchern gedruckten Kriegsgeschichte verbergen.

In diesen Tagen wurde bekannt, dass auch der Ofterdinger Glaser Hermann Mayer (1881-1959) solche Briefe an seine Familie geschrieben hat. Von ihnen sind zwei in ein Büchlein abgeschrieben worden, das sich heute im Besitz seines Enkels Hermann Dreher befindet. Ihm ist für die Erlaubnis der Veröffentlichung zu danken. Besonderer Dank gilt Manfred Binder, der auf das Aufschreibbüchlein Hermann Mayers aufmerksam gemacht hat.

Die Schilderungen Mayers kommen gleich zur Sache und führen uns mitten hinein in die erbitterten Kämpfe des 1. Weltkriegs. Die deutsche Frontlinie verlief 1915 im Gebiet zwischen La Bassee und Arras (in der Gegend von Lens, südlich von Lille) in etwa nord-südlicher Richtung. Hier begannen im Mai 1915 französische und englische Truppen mit einer Offensive. Diese "Frühjahrsschlacht im Artois" wird auch als "Schlacht von La Bassee und Arras" oder "Loretto-Schlacht" bezeichnet. Sie spielte für den Verlauf des Krieges insofern eine Rolle, als sie die deutschen Truppen an der Westfront bis an die Grenze ihrer Möglichkeiten beanspruchte. Damit erhöhte sich die Belastung des Zweifrontenkriegs und war es nicht möglich, die Ostfront zu verstärken.

Am Sonntag, dem 9. Mai, griffen die Franzosen im Frontabschnitt südwestlich von Lens an, wo die Anhöhe mit den Ruinen der Wallfahrtskapelle "Notre Dame de Lorette" strategische Bedeutung hatte. Sie erzielten dabei südlich von Souchez einen breiten Geländegewinn bis Neuville und Ecurie. Die deutschen Gegenangriffe der nächsten Tage gegen die überlegenen Franzosen blieben im wesentlichen erfolglos. Im Gegenteil, die Deutschen mußten trotz der Heranführung von Verstärkungen weitere Dörfer und Geländepunkte aufgeben. Der Geländegewinn betrug schließlich 1,9 km in der Tiefe auf einer Breite von 5,4 km. Ihm standen Verluste von rd. 60.000 Soldaten gegenüber. Die deutschen Verluste betrugen vom 9. bis 13. Mai etwa 20.000 Mann.

Ende Mai setzten neue heftige Angriffe der Franzosen ein, wiederum mit schwerem gegenseitigem Artilleriebeschuß, der den Stellungskampf der Infanterie und die hin und her wechselnden Sturmangriffe unterstützte und begleitete. Die Kämpfe erstreckten sich auf die ganze Front zwischen Lievin und Ecurie. Mitte Juni erfolgten Angriffe im nördlichen Artois, wo auch englische Truppen kämpften. Schließlich endete die ganze "Frühjahrsschlacht" um den 18. Juni.

Bei allen diesen französischen Offensiven, die kriegsentscheidende Durchbrüche zum Ziel hatten, veränderten sich die Frontlinien jedoch nur unwesentlich. Die Verluste an Soldaten betrugen seit dem 9. Mai auf alliierter Seite rd. 100.000 Franzosen und 32.000 Engländer, auf deutscher Seite rd. 73.000 Mann.

Die beiden Briefe des Hermann Mayer datieren vom Montag, dem 17. Mai. Er befand sich an diesem Tag in Souchez, wo anscheinend Ruhe herrschte. Im ersten Brief berichtet er von der vergangenen Woche, in der er von Montag Mittag bis zur Ablösung am Sonntag Mittag an der Front kämpfte. Details teilt er nur für Montag und Dienstag mit. Nachdem sich die Truppe in der Nacht zum Dienstag eingegraben hatte, scheint die Stellung gehalten worden zu sein. Verpflegung erhielt die Truppe in der Nacht zum Mittwoch, also nach rd. 35 Stunden. Nach der Ablösung am Sonntag lag Mayer vorübergehend im Nachbardorf von Souchez, in Aix-Noulette. Hier war am vorangegangenen Samstag die deutsche Artillerieverstärkung eingetroffen, als Mayer noch im Schützengraben den Franzosen gegenüberlag. Diese Situation schildert er in seinem ersten Brief. Er mußte mit ansehen, wie die zur Kapitulation bereiten Franzosen von der Artillerie zusammengeschossen wurden.

Der zweite Brief, am Abend des gleichen 17. Mai geschrieben, zeugt davon, wie sehr Mayer noch immer von den Erlebnissen ergriffen war. Der Brief hat den Charakter eines Nachtrags, da er ausschließlich die Ereignisse eines Sturmangriffs beschreibt, der am Abend des Mittwoch, 12. Mai, begann. Mayer bezeichnet den Angriff und die darauf folgenden Kämpfe selbst als "die Hauptsache". Es scheint wie ein Wunder, dass er die Tage der feindlichen Offensive unbeschadet überstanden hat. Er kehrte, nachdem er schon im Oktober 1914 und nachmals 1918 verwundet worden war, nach Kriegsende zu seiner Familie zurück. Er wurde mehrfach dekoriert, u.a. mit dem Eisernen Kreuz.

Wegen der Ortsangaben Mayers muß beachtet werden, dass er die Ortsnamen wohl nur vom Hörensagen kannte und nach dem Gehör niederschrieb. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn sie in dieser Schreibweise nicht gefunden werden können. Betrachtet man den Kriegsschauplatz zwischen Lens und Arras auf der Landkarte, so muß das "Sousie" Mayers mit "Souchez" identisch sein. Bei seinem "Noumärr" ist wegen der Nähe dieses Dorfes zum Zentrum der Kämpfe an "Aix-Noulette" zu denken.


1. Brief:
Zwischen Arras und La-Bassee
Sousie [Souchez], 17. Mai 1915

Meine Lieben!

Nach 6 harten, schweren Tagen sind wir am Sonntag Nacht abgelöst worden. Wir wurden am Sonntag, den 9. Mai mittags 3 Uhr alarmiert und mußten dann gleich abmarschieren. Es wußte keiner von uns, was los war. Wir marschierten nach Roubaix und wurden abends 7 Uhr dann eingeladen. Da sagte uns dann unser Oberstleutnant, die Franzosen hätten durchgebrochen, und es solle ein jeder seine ganze Kraft und Leben daran setzen, da wir Sie unbedingt wieder zurückschlagen müssen, und dann ging es weiter.

Und am Montag Mittag zwischen 11 und 12 Uhr sahen wir bald, was uns bevorstand. Wir wurden mit einem kolossalen Granatenhagel empfangen. Wir schwärmten sofort aus, aber wir waren noch lange nicht am Feind, denn das war schwere Artillerie. Und so gingen wir dann vor bis an ein Wäldchen, wo wir uns wieder sammelten in Kompaniekolonne, und rückten dann im Wald vor, bis ans Ende vom Wald. Von da an sprangen wir zugsweise in Reihen rechts um, durch ein Tal, ungefähr wie von Öschingen nach Belsen, wo wir in einem halb zusammengeschossenen Dörfchen am Ende sammelten, das aber fortwährend von feindlicher Artillerie beschossen wurde.

Und jetzt kam das schwerste. Wir lagen an einem Hang, wie ungefähr unser Werdental, und von da an waren wir mitten im Artilleriefeuer. Jetzt wurden wir ausgeschwärmt, es war ungefähr 3 Uhr, und so gingen wir vor über einen Höhenrücken, wieder in ein Tälchen, wie das Scheffertal. Die Granaten schlugen rechts und links, vor und hinter uns, neben uns ein. Es riß Löcher im Kreis von 3 m Breite und 2 m tief, wo wir oft 6-8 Mann hineinlagen, und wir auch sahen, daß es oft so viele zerriß. Man wußte nicht, wo es am besten war. Man sprang halt solange, bis man wieder Atem schöpfen mußte. Man sollte nicht glauben, was der Mensch aushalten kann, wenn er in Todesnot kommt.

Jetzt ging es wieder einen Höhenrücken hinauf, wie der Kührain ungefähr in der Mitte ist. Jetzt waren wir in der Höhe und vom Feinde überall gesehen, da wurden wir beschossen von allen Seiten. Wieviele Kameraden fielen da, Krüppel und Verwundete, da lagen einige, die keine Köpfe oder keine Füße, Arme, den Leib oder sonst was verstümmelt hatten. Wer da keine gesunden Nerven hatte, der konnte es nicht mit ansehen. Da weinten und schrieen viele Gesunde noch, der liebe Gott im Himmel, er möge doch der Katastrophe ein Ende machen, und einige haben sogar den Verstand verloren. Das ist arg, wenn man so was mit ansieht. Es ging aber natürlich nicht so leicht, wie ich es hier schreibe, denn einen solchen Gegner, es waren meistens Alpenjäger, aus einem Dorf hinauswerfen, Haus für Haus, der Friedhof wurde nicht einmal verschont, das ist ein schwerer Kampf.

Unterdessen ist es Nacht geworden. Jetzt faßten wir nun festen Fuß und gruben uns ein, aber fortwährend vom Feinde belästigt. Und bis am Morgen hatten wir dann einen Schützengraben fertig, wo wir einigermaßen vor dem feindlichen Infanteriefeuer geschützt waren. Jetzt kam das Artilleriefeuer wieder, wo wir wieder manchen Kameraden verloren, und tot hinter den Schützengraben legten, und die Verwundeten ins Dorf hinab trugen und keine Sekunde sicher waren, ob uns nicht auch im nächsten Augenblick das gleiche Schicksal ereile. Und so ging es fort bis Samstag, da spürte man keinen Hunger und keinen Durst mehr. Am Dienstag Nacht bekamen wir dann Kaffee, Suppe und Brot und Zigarren, aber man hatte keinen rechten Appetit, denn wir waren zu abgemattet. Wir bekamen dann jede Nacht unser Essen wie oben genannt, bis wir dann am Sonntag Morgen zwischen 12 und 1 Uhr abgelöst wurden.

Und da war wieder eine Aufregung in uns, denn wir sagten uns, wenn wir nur schon glücklich draußen wären, denn wenn man 50 bis 100 m vor dem Feinde liegt, ist es keine Kleinigkeit, eine solche Truppenbewegung zu ranschieren, ohne von dem Feind bemerkt zu werden. Wir kamen aber gottlob und sei Dank unter Gottes Hilfe glücklich weg. Jetzt sind wir hier in Noumärr [Aix-Noulette] einquartiert, wie lange, wissen wir nicht. Vielleicht geht der Krieg auch bald zu Ende, wenn es Gottes gnädiger Wille ist. Am Samstag hatten wir dann Verstärkung von Artillerie bekommen. Es stehen jetzt eine Unmasse Artillerie in der Stellung, schwere und leichte, die haben am Samstag so geschossen, daß man meinte, der Himmel und die Erde täte sich auf. Die Franzosen haben uns mit weißen Fähnchen gewunken. Sie wollten sich ergeben, aber wir konnten nicht vor wegen unserem Artilleriefeuer. Da haben sie kolossalen Verlust gehabt und wir sahen, daß es viele, wenn die Granaten einschlugen, in ihrem Graben zerriß. Ich kann nicht alles schreiben. Den Brief aufheben oder abschreiben.

Unterdessen grüßt Dich Dein Mann, Dir und meiner Mutter, Bruder und Schwestern, Schwager, Schwägerin, Vetter und Basen, Urahne, Nachbarn und unsere Kinder und Freunde, hoffentlich auf baldiges Wiedersehen, so es Gottes Wille ist.
Hermann.


2. Brief:
Sousie [Souchez], den 17. Mai 1915

Liebes Weib und Kinder!

Da ich gerade noch Zeit habe, es ist jetzt 7 Uhr abends, will ich noch einiges schreiben von der Hauptsache, die ich erlebt habe in den 6 Tagen und Nächten. Am Mittwoch wurde uns mittags gesagt, daß wir bis heute Abend 7 Uhr einen Sturmangriff machen, das wäre also am 12. Mai gewesen. Unsere Artillerie beschoß die feindlichen Schützengräben bis abends 2 Minuten vor 7 Uhr, dann hieß es Punkt 7 Uhr "raus marsch marsch". Aber die Franzosen eröffneten ein solches Gewehrfeuer, daß wir bloß die ersten ungefähr 50 Mann aus dem Schützengraben herauskamen. Die anderen, die heraus wollten, wurden alle niedergeschossen, und so scheiterte unser Angriff unter dem feindlichen Feuer zusammen. Aber es war gut, daß die anderen nicht heraus waren, denn sonst wären wir verloren gewesen. Wir hatten einen starken Gegner vor uns, meistens lauter Alpenjäger.

Ein Leutnant, ein Pionier mit Handgranaten und ich, wir sprangen ungefähr 20 Schritt bis vor den feindlichen Schützengraben. Und als wir uns umsahen, waren wir bis auf einige Mann, die noch hinter uns waren, allein. Da rief der Leutnant zu uns "hinliegen", und wir warfen uns hin, gerade in Brennesseln hinein. Wir spürten es nicht mehr. Wir lagen nun in einem kleinen Einschnitt, 20 Schritt von den Franzosen weg, aber gedeckt zwischen unserem und dem feindlichen Feuer. Da könnt Ihr Euch denken, was für ein Gefühl wir hatten, wenn man ungefähr anderthalb Stunden zwischen 2 Feuern liegt.

Da riefen uns die bayerischen Jäger zu, wir sollen auf dem Bauch herunterkriechen, dann schießen sie mit ihren Maschinengewehren auf die Franzosen, dann werden sie die Köpfe schon hinuntertun. Die lagen rechts von uns, und so kamen wir mit Gottes Hilfe und den bayerischen Jägern glücklich zu ihnen in ihren Schützengraben. Der Leutnant hatte einen Armschuß, ich kam gottlob gesund zurück. Aber wir waren wenige von den 50 Mann, die gesund zurück kamen, die meisten fielen.

Als wir bei den Bayern in ihrem Schützengraben waren, drückten sie uns die Hände und wünschten uns Glück. Das war das zweite Mal von den Bayern, denn am ersten Tag, als wir den Angriff machten, hatten sie uns zugeschaut und haben mit Sehnsucht auf uns gewartet. Denn wäre es uns nicht geglückt, die Franzosen zurückzuwerfen, wäre es um sie geschehen gewesen. Denn von uns hätte schon ein Regiment den Sturm machen sollen und ist mißlungen. Dann könnt Ihr Euch denken, was die Jäger für eine Freude hatten, als wir am Montag Abend die Franzosen zurückwarfen. Sie reichten uns die Hände vor Freude, und ihr Oberst umarmte unseren Oberstleutnant und Major und lobte uns Schwaben. Er sagte, so was hätten sie noch nicht mit angesehen, wie wir so todesmutig daher gekommen seien. Sie haben schon, als sie uns von weitem sahen, gesagt, das sind Schwaben, jetzt sind wir gerettet. Sonst wären sie alle eingeschlossen und gefangengenommen worden.

Der Kaiser und König haben unserem Regiment die vollste Anerkennung und Dank ausgesprochen für die Leistung, die das Reserve-Regiment 120 gemacht hatte, aber unter vielen Verlusten. Unsere Kompanie hat allein 94 Mann verloren, etliche 30 tot, die anderen verwundet. Die anderen Kompanien haben nicht so viel, zum Teil 3 Tote und 10 oder 20 Verwundete, unsere Kompanie hatte am meisten Verlust.

Jetzt will ich schließen, ich kann Euch nicht alles schreiben, da müßte ich noch viel Papier haben. Wenn es Gottes Wille ist, kann ich es einmal Euch dann erzählen, wenn ich wieder heimkomme. Ich glaube, daß es nicht lange mehr dauern wird, bis der Krieg zu Ende geht. Paket hab ich erhalten, aber es war gerade recht nach solchen Strapazen. Unterdessen grüßt Euch alle mit dem Wunsche, daß Ihr gesund seid wie ich, auf baldiges Wiedersehen.

Grüße an Anna, Gertrud und Hedwig, und sie sollen auch brav sein und beten.

Hermann Mayer (1881-1959), seine Frau Agnes, geb. Röcker, und die drei Töchter Anna, Gertrud und Hedwig
Hermann Mayer (1881-1959), seine Frau Agnes, geb. Röcker
und die drei Töchter Anna, Gertrud und Hedwig. Das Foto
stammt aus den Kriegsjahren.