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Türsturz über der ehemaligen Rathauspforte

Nr. 15 - Ofterdingen vor 60 Jahren - Erinnerungen an die Nachkriegszeit

(Gerhard Kittelberger)

Dieser Beitrag knüpft an den Aufsatz „Ofterdingen vor 60 Jahren – Erinnerungen an das Kriegsende“ an, der die Ereignisse bis zur Besetzung Ofterdingens durch französische Truppen zum Inhalt hatte. Bekanntlich geschah dies am frühen Nachmittag des Sonntag, 22. April 1945. Jetzt sollen die Erinnerungen an die ersten, darauf folgenden Tage aufgezeichnet werden. Bei vielen von ihnen ist dies bislang noch nicht geschehen, weshalb die Gefahr besteht, dass sie dem Vergessen anheimfallen. Gegenüber der Aufzeichnung von Erinnerungen soll die Auswertung von Literatur und Archivalien in den Hintergrund treten. Zwar enthalten die Akten des Gemeindearchivs viele ergänzende Informationen, doch sind auch gravierende Lücken spürbar. In welchem Ausmaß die öffentliche Verwaltung durch dem Umsturz außer Tritt geraten und uninformiert war, zeigt ein Schreiben des Landratsamts Tübingen vom 24. Juni 1947 an die Bürgermeisterämter. Darin werden diese ersucht, „umgehend mitzuteilen, an welchem Tage die Gemeinde von französischen Truppen besetzt wurde“.

Da der vorliegende Beitrag fast nur aus Erzählungen entstanden ist, kann er nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, und wohl auch nicht auf absolute Richtigkeit erheben. Manche Information konnte nicht durch andere Berichte verifiziert werden. Auch war es dem Autor nicht möglich, alle als Zeitzeugen in Frage kommenden Frauen und Männer aufzusuchen. Der Autor bittet die Leser, dies zu berücksichtigen.


Die Besetzung am Sonntag, 22. April 1945.- Als die französische Panzerspitze um die Mittagszeit in das Dorf hereinfuhr, hielten sich die Ofterdinger Einwohner an ganz unterschiedlichen Stellen auf. Man war offenbar nicht vorgewarnt, weder durch den Lärm der fahrenden Panzer, noch durch Schüsse. Viele saßen gerade beim Mittagessen, manche waren im Keller oder Bunker, obwohl gerade keine Tieffliegerangriffe drohten, und einige standen sogar auf der Straße. Wenige erinnern sich an die vordersten französischen Fahrzeuge. Es waren in der Hauptsache Panzer, begleitet von Infanterie, einige Lastwagen und Jeeps. Auch gummibereifte Panzerspähwagen fuhren in der Kolonne mit.

Für die Volkssturmleute, die sich befehlsgemäß auf die Verteidigung des Dorfes vorbereitet hatten, war der feindliche Vorstoß von Dußlingen her eine Überraschung. Sie hatten mit dem Einmarsch auf der Reichsstraße aus Richtung Hechingen gerechnet. Deshalb befand sich auf dem Kührain eine von Soldaten und Volkssturmleuten besetzte Maschinengewehrstellung und war die einzige Panzersperre Ofterdingens oberhalb der Wedenbachbrücke errichtet worden. Die Maschinengewehrstellung blieb nicht unentdeckt. Ein Panzer beschoß sie von der Zeppelinstraße aus, wodurch einige Männer verletzt wurden. Die Panzersperre wurde ebensowenig verteidigt wie das Dorf selbst. Der unter dem Befehl von Johannes Letzgus stehende Volkssturm war aufgelöst. Die hölzerne Sperre bildete auch für den weiteren französischen Vormarsch nach Süden und Westen kein Hindernis. Die Panzerspitzen bogen nach Mössingen vor der Sperre ab, und in Richtung Sebastiansweiler fuhren sie auf dem Weg bei der unteren Zemente auf die Höhe hinauf. Das aus senkrechten und waagrechten Baumstämmen errichtete Sperrwerk mußte danach von Ofterdinger Fuhrleuten mit Hilfe von Pferdegespannen beseitigt werden.

Viele Einwohner hielten sich, durch die Jaboangriffe und den Artilleriebeschuß der vergangenen Tage gewarnt, in Kellern oder selbstgegrabenen Bunkern bzw. Splittergräben auf. Sichere Keller in Häusern oder Scheunen, in denen manchmal die ganze Nachbarschaft zusammenkam, gab es an vielen Stellen des Dorfes, so beispielsweise in der Bachsatz, in der Kirchstraße, in der Goldgasse und in Hirsch-Martins Scheuer auf der Insel.

In der Bachsatzstraße saß eine Familie in der Wohnung beim Mittagessen. Als Motoren- und Kettenlärm fahrende Panzer ankündigten, spickte der Vater aus dem Fenster und bemerkte: „jetzt send se do“. Danach begab sich die Familie schleunigst in den Keller, wo sie auch schon vorher genächtigt hatte. Auch in der Froschgasse hielt sich eine Familie in der Wohnung auf. Als man ein Motorrad mit Seitenwagen bemerkte, flohen alle in den Keller der daneben liegenden Scheuer.

Ob schwere Kampfpanzer durch den ganzen Ort fuhren, erscheint fraglich. Die Steinlachbrücke beim Rathaus wäre sicher unter deren Gewicht zusammengebrochen. So soll ein schwerer Panzer, von der Bachsatzstraße kommend, vor der Rathausbrücke umgekehrt sein. Zur selben Zeit, als die Franzosen in das Dorf hereinfuhren, hielten sich hier noch deutsche Soldaten auf, die vom Rammert her auf der Flucht waren. Manche von ihnen hatten den Neckar nach der Sprengung der Rottenburger Brücken durchwatet. In mehreren Häusern waren Soldaten gerade dabei, ihre nassen Uniformen zu trocknen. Andere wurden von hilfsbereiten Familien verköstigt. Auch in der Küche von Jakob Wiech (Hagenmichele) saß man zusammen mit einigen deutschen Soldaten zu Tisch. Die Gemütlichkeit endete schnell, als ein französischer Panzerspähwagen über die Rathausbrücke fuhr und eine Salve über den Hof schoß. Die Flucht der deutschen Soldaten gelang durch Hintertüren, durch Ställe und Scheunen, über Zäune und durch Gärten, und diesen Weg nahm in den folgenden Stunden und vor allem in den Nächten noch mancher Landser.

Da die voll motorisierte französische Truppe bereits weit vorangekommen war, hatten die durch den Rammert kommenden deutschen Soldaten keine Chance, sich noch an der sinnlosen Albrandverteidigung in Genkingen oder Talheim zu beteiligen. Es konnte nur noch darum gehen, sich Zivilkleidung zu verschaffen, um der Gefangenschaft zu entgehen oder die Heimat unbeschadet zu erreichen. So verwundert es nicht, wenn viele Zeugen, damals im abenteuerlustigen Jugendalter, weggeworfene Waffen, Munition oder Uniformen im und um das Dorf vorgefunden haben. In der Steinlach lagen Schußwaffen und Gewehrschlösser, und auch im Wald hatten sich viele Soldaten ihrer Ausrüstungen entledigt.

Im Bereich der Reichsstraße durchsuchte die französische Infanterie, die vor allem aus Marokkanern bestanden zu haben scheint, neben den Gebäuden auch die bei den größeren Firmen bestehenden Luftschutzbunker. Hier kam es manchmal zu brenzlichen Situationen, da die Franzosen zunächst nicht erkennen konnten, ob ihnen Zivilisten oder Soldaten gegenüberstanden. In der Regel hielten sich aber nur Betriebsangehörige oder Einwohner aus der Nachbarschaft darin auf, darunter auch französische Kriegsgefangene, die die Lage schnell klären konnten und zur Entspannung beitrugen.

Im ganzen Dorf suchten die Franzosen nach deutschen Soldaten und durchstöberten dabei Häuser und Scheunen. Dies bot vielfach Gelegenheit zur Plünderung von Uhren und Schmuck, und dabei wurden auch Quartiermöglichkeiten ausgekundschaftet. Vor allem Stallhasen und Geflügel wurden requiriert. Nach und nach verließen die Einwohner ihre Keller und Bunker und kamen in ihre Wohnungen oder auf die Straße. Die Frauen und Mädchen hielten sich dabei eher zurück. Sie hatten dem Einmarsch der feindlichen Truppen voller Angst entgegengesehen. Die deutsche Propaganda hatte sie eindringlich vor Übergriffen der feindlichen Soldaten gewarnt. Dies diente zwar zunächst dazu, den Durchhaltewillen der deutschen Bevölkerung zu stärken – wie sich zeigen sollte, war die Warnung aber auch berechtigt.

Den französischen Offizieren gelang es schnell, den Bürgermeister-Stellvertreter, den Hofbauern Martin Lutz, und den Amtsboten Martin Gimmel aufs Rathaus zu holen. Die Verständigung wurde durch deutschsprachige Offiziere, vermutlich Elsäßer, erleichtert. Die ersten Anordnungen der Besatzungsmacht mußte Gimmel ausschellen, doch gibt es auch Erinnerungen an Lautsprecherwagen. Sie befahlen die Ablieferung von Waffen und Munition, Wehrmachtsuniformen, Radio- und Fotoapparaten sowie Ferngläsern. Gerade die Ablieferung von Waffen auf dem Rathaus führte mehrfach zu gefährlichen Mißverständnissen. So war in der Bachsatzstraße gerade der kleine Otto mit seinem Vater auf dem Weg zum Rathaus, beide behängt mit Gewehren und mit Pistolen in den Taschen. Plötzlich tauchte hinter ihnen ein marokkanischer Soldat auf mit der Maschinenpistole im Anschlag und rief sie an. Otto stieß vor Schreck einen Schrei aus, nicht zuletzt, weil er nie zuvor einen Schwarzen gesehen hatte. Glücklicherweise klärte sich die Situation schnell auf, ohne daß ein Schuß fiel. Übrigens wird berichtet, viele der abgelieferten Sachen seien noch einige Zeit auf dem Rathaus liegengeblieben, darunter auch Gewehre. Radios, vielfach Volksempfänger, hätten wieder abgeholt werden können.

Weitere Anordnungen betrafen eine nächtliche Ausgangssperre. Die Haustüren mußten unverschlossen bleiben und am Haus ein Zettel angeheftet werden, der Auskunft über die Bewohner gab. Zu beiden Seiten der Reichsstraße, in der Dettinger und in der Alten Rottenburger Straße wurden Straßensperren errichtet. Für die Passage, ebenso für das Fahren mit dem Fahrrad, waren Passierscheine erforderlich.

Als erste Unterkünfte nahmen die Franzosen die Gastwirtschaften in Anspruch. Einer Truppe diente das „Rößle“ als Quartier. Im „Lichtenstein“ wurde ein Lazarett eingerichtet. Auch der „Kühle Brunnen“ war von einer französischen Truppe belegt, und hier hatten die Unteroffiziere vorübergehend ihr Kasino. Für andere Soldaten wurden Privatquartiere vorbereitet. An Haustüren mit Kreide angeschriebene Zahlen legten die im Haus aufzunehmende Mannschaft fest. Überrascht wurde eine Familie in der Bachsatzstraße, als eine ganze Panzerbesatzung bei ihr Quartier nahm. Bei Jakob Wiech fuhr ein Lastwagen vor, dessen Insassen Unterkunft verlangten. Die Offiziere scheinen allgemein Privathäuser bevorzugt zu haben, sei es zum Essen oder auch als Nachtquartier. Im Haus des Jakob Wiech quartierte sich ein „Kapitän“ mit seinem „Burschen“ ein. In der Wohnung der Familie Gäbele in der Bachsatzstraße kamen einige Tage lang bis zu 10 Offiziere zum Essen zusammen. Die Familie hatte während des Einmarschs Schutz im Keller gesucht, doch kaum war sie wieder oben, wurde ihre Wohnung beschlagnahmt. Dies stand vielleicht im Zusammenhang mit der Wirtschaft „Zum Faß“, in der sich eine Schneiderwerkstatt befand. Die Offiziere hatten zwar einen eigenen Koch mitgebracht, der das Essen zubereitete, doch mußte sie die zwanzigjährige Tochter Anna bedienen. Die Angst, die sie anfangs hatte, erwies sich als grundlos.

Die französische Mannschaft war anscheinend darauf angewiesen, sich selbst mit Lebensmitteln zu versorgen. Nur so ist es zu erklären, dass sich die Raubzüge bei Nacht fortsetzten. Bisweilen bereitete die Zubereitung der Beute Schwierigkeiten. Einige Soldaten fuhren im Jeep vor einem Haus in der Alten Rottenburger Straße vor und verlangten die Zubereitung einer mitgebrachten Gans und von Kartoffeln. Wie in Ofterdingen üblich, wurden Bratkartoffeln zubereitet. Diese entsprachen jedoch in keiner Weise den französischen Vorstellungen von „pommes frites“. Gingen hier nur Kartoffeln einen anderen als den gedachten Weg, war der Schaden in einem anderen Fall gravierender. Dabei ging es nämlich um einen ganzen Eimer voller Schnecken, die mühsam gesammelt worden waren. Auch sie wurden voller Vorfreude den Hausfrauen übergeben. Sie sollten sie für ein abendliches Essen zubereiten und den Offizieren servieren. Hier war guter Rat teuer. Am plausibelsten schien der Ratschlag der Nachbarin, die Schnecken wie Leberspätzle zu braten. Gesagt, getan: sie wurden abgebrüht, aus den Häuschen gezogen und in einer Pfanne mit Butter schön angebraten. Auch dieses Ergebnis der schwäbischen Kochkunst entsprach nicht den französischen Vorstellungen und löste eher Entsetzen aus. Hier wanderte das Gericht auf die Miste.


Sonntagabend und Nacht zum Montag.- Obwohl in Ofterdingen kein organisierter deutscher Widerstand zu bemerken war, traf die französische Truppe Sicherheitsvorkehrungen. Eine Artillerieabteilung ging südlich des Dorfes in Stellung. Die in weiten Abständen stehenden Geschütze waren auf die Alb ausgerichtet. Im Norden, in Richtung Rammert, befanden sich Maschinengewehrstellungen.

Versprengte deutsche Soldaten zogen weiterhin auf ihrem Weg nach Süden durch das Dorf. Nicht allen war bekannt, dass der französische Vorstoß Ofterdingen bereits erreicht hatte und hier gegnerische Soldaten im Quartier lagen. So konnte es vor einem Haus in der Dettinger Straße zu einem schlimmen Zusammenstoß kommen. Am Abend hatte sich hier ein Offizier zusammen mit marokkanischen Soldaten einquartiert. Für den Offizier mußte ein Bett gerichtet werden, die Soldaten beschäftigten sich in der Küche. In der Nacht läuteten deutsche Soldaten an der Haustür, wohl um Lebensmittel oder Kleidung zu erhalten. Sogleich kam es zu einer Schießerei. Schüsse fielen durch die Haustür und auf der Straße, Deutsche und Franzosen wurden verwundet. Später fand man einen durchschossenen Stahlhelm im Garten. Die verängstigte Familie zog am nächsten Tag zu Bekannten ins Dorf. Das von ihnen verlassene Haus diente längere Zeit als französisches Quartier. Merkwürdigerweise blieben die im Garten gehaltenen Hühner unversehrt. Die kleine Tochter Anna traute sich täglich hin und fütterte sie.

Als die Familie wieder in das Haus zurückkehren konnte, sah sie in der Küche voller Schrecken den Sofa mit Blut bedeckt und davor eine Blutlache. Erst von Nachbarn erfuhr sie, was geschehen war. Ein marokkanischer Soldat sei gefangen hierher gebracht und erschossen worden. Diese Ereignisse wurden damals mit einer Vergewaltigung in der Kriegstraße in Verbindung gebracht.

Abends und in der Nacht steigerte sich in den Ofterdinger Häusern die Furcht vor Vergewaltigungen. Nahe der Alten Rottenburger Straße flohen Mutter und Tochter vor französischen Soldaten durch die Scheuer und Gärten ins Feld hinaus. Dort hielten sie sich über lange Nachtstunden versteckt. Als sie dann heimkehren wollten, bemerkten sie von weitem eine außerhalb des Dorfes angelegte Maschinengewehrstellung. Sie mußten sie in weitem Bogen vorsichtig umgehen.

Trotz aller Vorsicht und Abwehrbereitschaft kam es im Ort zu zahlreichen Vergewaltigungen. Sie sind schriftlich nur bruchstückhaft überliefert, aber in der Erinnerung noch lebendig. Die Pfarrfrau Knödler und ebenso die damalige Gemeindeschwester schreiben in ihren Berichten von 10 bedauernswerten Opfern. Der stellvertretende Bürgermeister Martin Lutz schreibt in einem Bericht, am Montag, dem 23. April seien einige betroffene Frauen aufs Rathaus gekommen. Weitere Zeugnisse dieser Verbrechen kamen in einer Flasche zum Vorschein, die zufällig im April 1993 im Garten des Hauses Heimgartenstraße 10 ausgegraben wurde. Die beiden darin enthaltenen, teilweise verrotteten Papierblätter werden noch heute vom Ehepaar Steinhilber verwahrt. Sie enthalten Protokolle der Aussagen von insgesamt drei Frauen, zwei Evakuierten und einer Ofterdingerin des Jahrgangs 1910.

Aus diesen Überlieferungen und mündlichen Berichten lassen sich umrißhaft Ereignisse erkennen, die sich in der Schillerstraße und Goldgasse abgespielt haben. Hier seien nachts ½2 Uhr drei Autos mit marokkanischen Soldaten vorgefahren. Sie hätten sich unter Gejohle und Tumult in die umliegenden Häuser begeben. Sechs von ihnen kamen in ein Haus, in dem einer von ihnen eine Frau in Anwesenheit ihrer beiden Kinder vergewaltigte. Die anderen Soldaten plünderten. In ein benachbartes Haus drangen zwei Marokkaner ein, die eine Frau nacheinander vergewaltigten. Ebenfalls in der Goldgasse hatten die Bewohner mehrerer Häuser in einem Keller Schutz gesucht. Auch hier drang ein marokkanischer Soldat ein und forderte eine Frau auf, mitzukommen. Er mußte von seinem Vorhaben jedoch ablassen, als der ganze Keller zusammenschrie und ihn auch ein Mann bedrohte. Mehr Erfolg soll er dann in der Nachbarschaft gehabt haben, wo die leidtragende Frau noch lange unter den Folgen litt.

Nicht mehr sicher aufklärbar ist die Entstehungsgeschichte der erwähnten „Flaschenpost“. Verfasser der Protokolle dürfte der damalige stellvertretende Bürgermeister, der Hofbauer Martin Lutz gewesen sein. Er war am 23. April noch im Amt. Dieses verlor er allerdings tags darauf, wie die Pfarrfrau Knödler berichtet, weil er sich weigerte, eine Liste der Parteigenossen anzufertigen. Wer dann die Protokolle in einer Flasche verschlossen und in einem Garten vergraben hat, kann ebenfalls nur vermutet werden. Am ehesten kommt der Dorfpolizist Martin Gimmel in Frage, der sie damit nach der Verhaftung des Hofbauern vor dem Zugriff der Franzosen rettete.

Undeutlich ist die Erinnerung an eine in der Kriegsstraße verübte Tat an einer evakuierten Frau. Die Vergewaltigung soll erst nach mehreren Tagen bei der Kommandantur im „Kühlen Brunnen“ angezeigt worden sein, worauf der Täter, ein marokkanischer Soldat, in dem genannten Hause in der Dettinger Straße erschossen worden sei. Im Juni 1945 hatte die Gemeinde dem Landratsamt die vorgefallenen Gewalttaten und Plünderungen durch französische Truppen zu melden. Dabei ist von 30 Vergewaltigungen, begangen durch marokkanische Soldaten, die Rede. Diese Zahl wird noch heute von Zeitzeugen für wahrscheinlich gehalten. Dabei wird berichtet, die Ausschreitungen der französischen Truppe hätten sich nicht auf die erste Nacht der Besetzung beschränkt, sondern sich noch mehrere Tage lang fortgesetzt.

Es ist denkbar, dass diese Gewalttaten bei den Ofterdinger Frauen eine gewisse Aggressivität gegenüber französischen Soldaten wachsen ließ. Anders ist wohl nicht zu erklären, warum Ofterdinger Mädchen und Frauen aus vergleichsweise harmlosem Anlaß so resolut reagierten, wie folgende zwei Erzählungen zeigen: Eines Tages fuhren zwei Schwestern mit dem Kuhfuhrwerk auf der Bachsatzstraße. Sie kamen am Brunnen vor dem Alten Schulhaus vorbei, wo gerade ein paar Soldaten ihr Fahrzeug wuschen. Als einer auf sie herüberspritzte, zog ihm die Ältere mit dem Ruf „Oha“ eine mit der Peitsche über. Aus der Winterzeit 1945 wird erzählt, eine Frau sei beim Melken gewesen, als ein Franzose sie mit Schneeballen bewarf. Auch sie verstand dies nicht als harmlose Neckerei. Sie ging ohne zu zögern auf ihn los und verpasste ihm ein paar Ohrfeigen.


Die französische Truppe richtet sich im Dorf ein.- Die französische Besatzungsmacht plante offenbar von Anfang an die Stationierung einer Truppe im Ort, und tatsächlich wurde unmittelbar nach der Besetzung ein Orts- oder Platzkommandant eingesetzt. Er beschlagnahmte das Haus der Witwe Anna Hausch, Hechinger Straße 19, als Wohnung und vorübergehende Kommandantur. Auch das Bürgermeisterhaus bei der Kirche war von einem französischen Offizier bewohnt. Wenig später war dann ein Haus zwischen Paulinenstraße und Steinlach Kommandantur und Offizierskasino.

Der Burghof diente den Panzern und anderen Fahrzeugen als Abstellraum. Ein neugezimmerter Schopf an der Zehntscheuer nahm die Feldküchen auf. Die Soldaten nahmen im Alten Schulhaus an der Bachsatz und im „Neuen Schulhaus“ von 1913 Quartier. Im Alten Schulhaus wurde gegessen, und hier fanden auch Vernehmungen Ofterdinger Bürger statt. Zwei Burschen wurden nach einem Verhör sogleich in den Ortsarrest abgeführt. Ihnen wurde vorgeworfen, sie hätten schlecht über Frauen geredet, die sich mit Franzosen abgaben. Die im Herbst wieder beginnende Schule mußte sich in der Wirtschaft „Zum Löwen“ einrichten. Vorübergehend hielt Pfarrer Knödler im Chor der Kirche Schulunterricht ab.

Für „die französische Unterkunft in der Schule“ fertigte die Firma Wilhelm Schmid im Mai 1945 27 Doppelstockbetten an. Außerdem stellte sie Schilderhäuser für die Wachposten an den Straßensperren sowie Gewehrständer her. In die Bachsatzstraße kam ein Schilderhaus für die Wache vor der Zufahrt zum Burghof. Vor dem Alten Schulhaus wurde ein Fahnenmast errichtet und eine französische Fahne aufgezogen. Auf Befehl des Platzkommandanten mußte jeder Vorübergehende die Fahne grüßen. Dasselbe galt gegenüber französischen Offizieren. Speziell das Grüßen der Fahne scheint den Ofterdingern zuwider gewesen zu sein. Wenn es aber einer versäumte, seine Kappe herunterzutun (von Frauen ist nie die Rede), mußte er zur Strafe längere Zeit neben dem Fahnenmast stramm stehen. Am einfachsten war es, die Bachsatzstraße zu meiden, aber einige suchten auch die Konfrontation. Vom Alt-Rößleswirt Jakob Schmid wird erzählt, er habe sein Metzgerkäpple nie gelupft. Er sagte dazu, wenn er hätte neben der Fahne stehen müssen, hätte er sich nur hingelegt. So weit kam es aber – wohl auch wegen seiner Gehbehinderung – nicht.

Neben den willkürlichen Plünderungen durch einzelne Soldaten begannen bald durch die Kommandantur angeordnete Ablieferungen. Am 18. Mai forderte der Kommandant von der Gemeinde Ofterdingen unter anderem:
   1 Schwein auf den 19. Mai,
   1 Schaf auf den 23. Mai,
   10 Liter Milch jeden Abend,
   200 kg. Kartoffeln,
   Gemüse,
   20 kg. Sauerkraut
   20 kg. Senf.

Ähnliche Anordnungen betrafen auch Kleidung oder andere Haushaltsgegenstände. So hatte z.B. jeder Haushalt eine komplette Männerbekleidung, einschließlich eines Anzugs, abzuliefern.

Am 26. Mai wurde die Gemeinde aufgefordert, für das Büro des Kommandeurs, das Offizierskasino sowie als Kasernenwart folgende Hilfskräfte einzustellen:
   2 Dolmetscher,
   2 Bürogehilfinnen,
   1 Kasernenwart,
   2 Köchinnen
   2 Gehilfinnen.

Alle angestellten Hilfskräfte stammten aus Ofterdingen. Große Schwierigkeiten hatte die Gemeindeverwaltung bei der Beschaffung von Wohnraum für die französischen Offiziere. Noch im Januar 1946 waren drei Wohnungen für zwei Leutnants und einen Feldwebel beschlagnahmt. Die ohnehin herrschende Wohnungsnot wurde durch weitere Anforderungen noch verschärft. Im Juli 1946 wandte sich die Gemeinde hilfesuchend an das Landratsamt, nachdem sie aufgefordert worden war, 8-10 französische Familien, meist mit 1-2 Kindern, unterzubringen. Hierfür seien 2-3 Zimmerwohnungen mit Küche, in erster Linie ehemaliger Mitglieder der NSDAP, zur Verfügung zu stellen.

Ein eher skurriles Detail der ersten Besatzungszeit war die Absicht des französischen Militärgouvernements Tübingen, im August 1945 50 französische Kinder zu einem sechswöchigen Ferienaufenthalt nach Ofterdingen zu schicken. Daraus dürfte kaum etwas geworden sein, doch war das gleiche auch für Rottenburg geplant. Jedenfalls ist eine umfangreiche Liste erhalten, in der die zu diesem Zweck in Ofterdingen zu beschlagnahmenden Geschirre, Bestecke, Gläser, Tischwäsche und Töpfe aufgezählt sind.

Die Besatzungsmacht bereitete auch in Ofterdingen die Beschlagnahme von Investitionsgütern vor. Im Mai 1945 erging die Aufforderung, die vorhandenen Kraftfahrzeuge zu melden. Der gemeldete Fahrzeugbestand umfaßte:
   9 Autos
   6 Traktoren
   26 Motorräder
   7 Lastwagen
   10 Anhänger, auch Langholzanhänger.

Darunter war auch der dreiachsige Lastwagen des Hans Speidel, Fabrikat Tatra mit Holzgasantrieb, einer der modernsten im Ort.

Als die Gemeinde im Juni 1945 dem Landratsamt über die vorgefallenen „Plünderungen“ zu berichten hatte, nannte sie
   13 Kraftwagen,
   20 Krafträder,
   30 Fahrräder,
   350 Radios,
   120 Fotos und Ferngläser.

Für den Transport von requiriertem Holz kam eine exotisch anmutende französische Truppe in das Dorf. Sie bestand aus nordafrikanischen Soldaten und einer großen Anzahl Mulis bzw. Mauleseln. Die Tiere waren in der Zehntscheuer untergebracht. Manche Einwohner erinnern sich daran, wie sie in langen Kolonnen auf der Landstraße oder durch das Dorf zogen. Die Maulesel transportierten Rundholz aus dem Wald zum Bahnhof Mössingen. Auch im Dorf gelagertes Stamm- und Schnittholz wurde requiriert und nach Frankreich abtransportiert.


Die Abenteuerspielplätze der Jugend, besonders das Munitionslager im Rammert.- Die Besetzung des Dorfes durch die französischen Truppen und die schulfreien Tage und Wochen danach waren für die Kinder und Jugendlichen eine Zeit intensiver Erlebnisse. Für sie galt dies wohl noch mehr als für die Erwachsenen, da sie den „Umsturz“ als gravierender empfinden und durch ihn verunsichert sein mußten. Die stärksten Eindrücke hatten die Heranwachsenden etwa vom Jahrgang 1928 an durch den Führerkult und die NS-Diktatur mit ihren militaristischen und faschistischen Gedanken empfangen. Der Gruppenzwang begann in der Schulzeit beim „Deutschen Jungvolk“ (DJ) sowie im „Jungmädelbund“ (JM) und setzte sich danach in der „Hitlerjugend“ (HJ) und im „Bund Deutscher Mädel“ (BDM) fort. Ein Teil der älteren, 16-17-jährigen, war zudem in Wehrertüchtigungslagern vormilitärisch, auch an Waffen, ausgebildet worden. Eine andere Gedankenwelt und damit einen Gegenpol konnte im dörflichen Leben nur der Ofterdinger Pfarrer Eduard Knödler errichten. Er stand fest zur „Bekennenden Kirche“ und machte im Gottesdienst und im Konfirmandenunterricht seinen Einfluß geltend. Obwohl er versuchte, sich durch sein Auftreten als Offizier gegenüber der Partei abzugrenzen, durfte auch er sich nicht zu regimefeindlichen Äußerungen hinreißen lassen. Er wäre sonst schnell in einem KZ verschwunden.

Daher wird die Buben und Mädchen schon allein der Anblick der feindlichen Truppen, Soldaten schwarzafrikanischer Abstammung, von Panzern und anderen Armeefahrzeugen aufgewühlt haben. Auch schockierten sie die Gefangennahme deutscher Soldaten, die Plünderungen, Beschlagnahmen und schließlich die Verzweiflung der Eltern wegen der herrschenden Rechtlosigkeit.

Dabei überwog bei vielen aber die Abenteuerlust und die Freude über die schulfreie Zeit. Die Buben und Mädchen kannten jeden Winkel und alle Verstecke, so dass sie die reine Anwesenheit der Franzosen nicht von ihren Unternehmungen abhielt. Es bahnte sich sogar zwischen einer Bubengruppe und den Franzosen im Schulhaus ein freundschaftliches Verhältnis an. Die Buben erklärten sich bereit, den Franzosen täglich Milch aus der Molke zu holen. Dieser Dienst wurde ihnen aber schlecht vergolten, so dass sie eines Tagen die Milchkannen einfach stehen ließen und davonliefen. Die wütenden Franzosen rannten hinterher, konnten sie aber nicht erwischen. Die Mädchen und jungen Frauen des Dorfes scheinen sich an den Abenteuern der Buben weniger beteiligt zu haben. Manche trauten sich an den ersten Tagen nicht auf die Straße.

Die Unbekümmertheit der Buben illustriert ein Vorgang auf der Aspergbrücke, der sich am zweiten Tag der Besetzung ereignete. Direkt vor dem von französischen Soldaten besetzten „Kühlen Brunnen“ spielten ein Ofterdinger und zwei aus Stuttgart und Mannheim Evakuierte. Der Ofterdinger Ernst erspähte in der Steinlach unterhalb der Brücke einen Gegenstand, der seine Neugier erregte. Er holte ihn sogleich auf die Brücke herauf, wo er sich als Eierhandgranate entpuppte. Hans, der Stuttgarter Junge, nahm sie zur Hand und untersuchte sie. Er schraubte den Deckel ab und zog den darunterliegenden Stift heraus. Als sie anfing zu zischen, legte er sie auf den Boden. Alle rannten weg, aber nicht schnell und weit genug. Hans stolperte auch noch und fiel hin, was aber sein Glück war. Ernst wollte gerade um die Hausecke biegen, als die Granate explodierte. Beide wurden durch Splitter verletzt. Der Stuttgarter Hans bekam nur einen kleineren Splitter ab, der ihn ohne größere Beschwerden sein ganzes Leben lang begleitete. Schlimmer traf es den Ofterdinger Ernst. Er erhielt zwei Splitter ins Knie. Die aus dem „Kühlen Brunnen“ herausrennenden Franzosen und später die Gemeindeschwester leisteten Erste Hilfe. Vier Monate später entzündete sich die Wunde aber, so dass die Splitter in Tübingen herausoperiert werden mußten. Der Mannheimer Junge, der auf dem Brückengeländer saß, erlitt eine Verletzung am Knöchel.

Besonders lebendig werden die Erzählungen einzelner Zeitzeugen, wenn es um das deutsche Munitionslager im Rammert geht. Das Bestehen dieses Lagers scheint in Ofterdingen nicht allgemein bekannt gewesen zu sein, doch dürften die dort vor dem Einmarsch vorgenommenen Sprengungen Aufmerksamkeit erregt haben. Die französische Besatzungstruppe hielt sich in den ersten Tagen aus dem Rammert heraus, und so war die Bahn frei für die abenteuerlustigen Buben. Sie pirschten in Gruppen von drei oder vier Freunden oder Jahrgangskameraden in den Wald. An der Alten Rottenburger Straße stießen sie zuerst auf liegengebliebene Fahrzeuge, darunter einen zerschossenen Lastwagen. Weiter im Wald lagen bis zur Roten Steige am Saurücken die teilweise gesprengten Munitionsstapel und die dabei umgerissenen Bäume. Überall häuften sich Munition, Artilleriekartuschen, -geschosse und Treibladungen, Sprengstoff, Hand- und Gewehrgranaten und Panzerfäuste. Daneben fanden sich im Wald die von deutschen Soldaten weggeworfenen Gewehre und sonstige Ausrüstungsgegenstände.

Bald hatte jeder der Buben Munition in den Hosentaschen. Andere Gegenstände wurden nach Hause mitgenommen und versteckt, einige schleppten ganze Munitionskisten fort. Die Buben konnten die Geschosse aus den Patronen herausdrehen und das Pulver herausschütten. Aus den leeren Patronenhülsen oder Eisenrohren und Pulver bastelten sie kleine, aber auch größere Böller, die dann im Dorf Aufmerksamkeit erregten. Auch war es spannend, Munition ins Feuer zu werfen. Zu einer gefährlichen Situation kam es beim Spielen mit einer Leuchtpistole. Einer der Buben hatte Sprengstoffplättchen aus einer Kartusche mitgenommen, von denen einige zuhause unglücklicherweise im Ofen landeten. Die Eltern werden wenig erfreut gewesen sein, als sie ihn daraufhin neu ausmauern lassen mußten. In einer Hemdtasche geriet ein solches Plättchen mit einer brennenden Pfeife in Kontakt. In der Folge heilte zwar alles wieder, nur das Hemd war ruiniert. Entleerte Munitionskisten dienten im Dorf noch lange häuslichen Zwecken. Artilleriekartuschen konnten vielseitig weiterverwendet werden.

Die älteren Jungen, die sich mit Waffen auskannten, trauten sich an gefährlichere Fundstücke heran. Mehrere erzählten, sie hätten Panzerfäuste in den Wald hinein abgefeuert. Zu diesem Zweck mußte die Treibladung erst durch Batterien aktiviert werden. Andere beschäftigten sich mit Handgranaten. Sie warfen Eierhandgranaten in den Wald oder versuchten sich mit dem berüchtigten Sprengstoff-Fischen in Forellenbächen.

Eine Gruppe trug herumliegenden Treibladungen für Artilleriekartuschen, Schwarzpulver in Säcken und Munition auf einem großen Haufen zusammen. Anschließend wurde er mit Hilfe einer Pulverspur in Brand gesetzt. Dabei entstand glücklicherweise keine der großen Sprengstoffmenge entsprechende Explosion, sondern lediglich eine baumhohe Stichflamme mit riesigem Rauchpilz. Jedoch scheint dies das Ende des Abenteuerspielplatzes Munitionslager gewesen zu sein, da die alarmierten Franzosen jetzt eine Patrouille ausschickten und das Lager in Besitz nahmen.

In diesen Tagen waren Jungengruppen nicht nur tagsüber, sondern - trotz dem ab 22.00 Uhr geltenden Ausgangsverbot - auch bei Nacht im Wald unterwegs. Fast jeder der Älteren besaß schließlich eines der im Wald herumliegenden Gewehre. Mit Karabinern wurden am Kührain Schießübungen veranstaltet. Der Wildreichtum jener Zeit verlockte zur Jagd. Ein Junge, der als 16-jähriger schon eine Waffenausbildung hinter sich hatte, fand einen schönen Sturmkarabiner 44. Er stromerte mit ihm durch den Wald und beobachtete auch Wild. Im Dettinger Tal ergab sich eine spannende Situation, da gleichzeitig auch ein französischer Offizier denselben Bock im Visier hatte. Gerade noch rechtzeitig konnte sich der Ofterdinger zurückziehen.

Die Streifzüge der abenteuerlustigen Buben führten bis zur Sulzhütte, der sogenannten „Schweizer Hütte“. Sie staunten über deren luxuriöse Ausstattung, z.B. mit einem Sofa und die hier lagernden Lebensmittelvorräte. Es wird erzählt, in der Jagdhütte habe sich der Tübinger NSDAP-Kreisleiter Hans Rauschnabel eingerichtet. Mehrere Zeugen berichten auch, in der Umgebung habe ein Lastwagen gestanden und habe sich ein Vorratslager befunden, unter anderem mit Treibstoff und Fahrzeugreifen. Ofterdinger Einwohner sollen sich später diese Kostbarkeiten sowie das Inventar der Hütte zunutze gemacht haben.


Liegengebliebene Fahrzeuge und die Kettenkräder aus dem Rammert.- Drei Kettenkräder (abgekürzt für Ketten-Krafträder) blieben nach Kriegsende auf einem Lastwagen im Rammert zurück, und zwar an der Alten Rottenburger Straße vor dem „Steigle“. Man brachte sie mangels Benzin mit Hilfe von Pferden in den Ort. Sie kamen in den Besitz des Stielwerks Albert Hausch, des Küfers Otto Speidel und des Wagners Karl Schmid und dienten hier eine Zeitlang als geländegängige Zugmaschinen.

Gut in Erinnerung ist noch heute das Kettenkrad von Karl Schmid, dem „Spee-Karle“. Er fuhr mit ihm im Ort herum und transportierte auf einem Anhänger Lasten. Unter anderem führte er für den Bedarf der Besatzungsmacht Korn zur Mühle und brachte das Mehl in den „Kühlen Brunnen“. Für diese Fahrten erhielt er auch Benzin. Die Franzosen hatten die Mühle, die wegen des Kriegsdienstes des Müllers Friedrich Pflieger (gefallen 2.3.1944) stillgelegt worden war, wieder in Betrieb genommen. Auf dem Kettenfahrzeug mitfahren zu dürfen, war für die Ofterdinger Buben das Größte. Das Fahrzeug des Karl Schmid mußte aber, wie auch die anderen, nach einigen Monaten als Kriegsbeute an die Franzosen abgeben werden.

Auch noch andere Militärfahrzeuge blieben im Ort zurück und wurden hier weitergenutzt. Für Holzlieferungen nach Frankreich mußten im Rammert Bäume gefällt werden. Für deren Transport aus dem Wald und zum Bahnhof Mössingen stand ein Halbketten-Fahrzeug zur Verfügung. Diese ehemalige Artilleriezugmaschine soll bei der Firma Steinhilber untergestellt gewesen sein. Außerdem blieb bei der Faßfabrik Georg Speidel ein Lanz-Bulldogg mit Holzgasbetrieb stehen, der zuletzt von der deutschen Luftwaffe gebraucht worden war. Die Zugmaschine wurde später von der Gemeinde genutzt. Bürgermeister Willi Schmid gab im Januar 1946 als „liegengebliebenes Kriegsmaterial“ neben ca. 1 Tonne Artilleriemunition im Steinbruch Nehrensteig nur „einen Kastenwagen in der Scheuer bei der Mühle“ an.


Das Kriegsende der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter.- Mit dem Einmarsch der französischen Truppen war für die französischen Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeiter der Tag der Befreiung gekommen. Dies galt auch für die anderen, noch im Mai 1945 hier lebenden ausländischen Kriegsgefangenen und die polnischen Zwangsarbeiter. Daneben befanden sich in Ofterdingen zahlreiche infolge der Kriegsereignisse entwurzelte Flüchtlinge.

Die insgesamt 16 Polen der Jahrgänge 1891-1925 dürften Zwangsverpflichtete gewesen sein - die polnischen Kriegsgefangenen waren ja längst nicht mehr hier. Die Polin Helena Nigbor arbeitete in der Landwirtschaft und wurde Mutter eines Kindes, das jedoch bald starb. Sie selbst zog nach dem Einmarsch mit unbekanntem Ziel weg. Fast ebenso groß war die Gruppe der 14 Esten, die als Flüchtlinge auf der Durchreise nach Kanada waren. Flüchtlinge waren auch die 4 Letten und Litauer sowie 12 Elsäßer. Zwei kriegsgefangene Ukrainer lebten hier noch eine Zeitlang in Privathaushalten.

Von der großen Gruppe der rund 40 französischen Kriegsgefangenen lebten die meisten schon seit 1941 im Dorf. Die in der Landwirtschaft tätigen Männer hatten ihr Nachtquartier im „Löwen“. Die Franzosen der anderen Gruppe, die zur Arbeit in den Stielfabriken verpflichtet waren, hatten ihr Quartier in der Paulinenstraße an der Steinlach.

Das Verzeichnis der vorhandenen Fahrzeuge vom Mai 1945 enthält eine unscheinbare Notiz, die ihre Bedeutung nicht gleich erkennen läßt. Sie ist der Angabe „Speidel, Hans, Lastwagen mit 6 Rädern, 2 Anhänger, Fabrikat unbekannt“ angefügt und lautet: “die befreiten Gefangenen von Ofterdingen sind nach Frankreich zurückgekehrt mit diesem Material“. Ofterdinger Zeitzeugen bestätigen, dass die ehemaligen Kriegsgefangenen ihre Heimreise mit dem dreiachsigen Tatra-Holzgas-LKW samt einem Anhänger für den Holznachschub angetreten hätten. Wenige Tage nach dem Einmarsch fuhren sie durch das Dorf und luden ihre Kameraden auf, die gerade bei ihren Bauern arbeiteten. Sie werden dann jubelnd aus dem Ort gefahren sein. Sie hatten ja den Krieg unversehrt überstanden. Der deutschen Bevölkerung standen dagegen bis zur Währungsreform noch harte Jahre bevor. Erst wenige Soldaten waren heimgekehrt und viele sollten noch in der Gefangenschaft umkommen.

Nach der Heimreise der Franzosen wurde das ehemalige Gasthaus „Zum Löwen“, seit 1939 Eigentum der Fa. Schöller in Öschingen, von Evakuierten oder Flüchtlingen bewohnt. Im Herbst 1945, mit Beginn des ersten Schuljahrs nach dem Krieg, zog dort die Volksschule ein. Das „Neue Schulhaus“ von 1913 wurde erst im März 1946 an die Gemeinde zurückgegeben, sodass die Schule im Mai wieder ihren angestammten Platz einnehmen konnte.

Die Baracken an der Steinlach waren nach der Abreise der Franzosen in schlechtem Zustand. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen und das Inventar verschwunden. Die Gebäude befanden sich 1946 immer noch im Eigentum der „Vereinigten Stielfabriken“, deren Geschäfte der Kaufmann Johannes Steinhilber besorgte. Sie wurden 1948 an Private verkauft und zu einer Zylinder-Schleiferei umgebaut.