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Türsturz über der ehemaligen Rathauspforte

Nr. 5 - Das Ursulastift - Entsteheung und erste Jahre

(Gerhard Kittelberger)

Man soll die Feste feiern, wie sie fallen, und so stellte sich vor einigen Monaten die Frage, in welchem Jahr wohl das 90-jährige Jubiläum des Kindergartens Ursulastraße festlich zu begehen sei. Albrecht Esche hatte ja mit seinen Forschungen, veröffentlicht im Bildband Esche/Lindner und im Festbuch 2000, wieder in Erinnerung gerufen, auf welch außergewöhnlichem Weg das "Ursulastift" entstanden war. So ist bekannt, dass nur die Stiftungen des von Ofterdingen nach Texas ausgewanderten Johann Martin Schmid seinen Bau ermöglicht hatten. Des großherzigen Stifters und seiner reichen Stiftungen zu gedenken wäre mit der Jubiläumsfeier ein guter Anlass gegeben.

Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage war jedoch nicht leicht zu finden. Auch durch eine weitere Suche in der Literatur zur Ofterdinger Geschichte konnte das Eröffnungsjahr des Kindergartens nicht festgestellt werden. Diese Unsicherheit bot angesichts des bevorstehenden Kindergartenjubiläums einen guten Grund, anhand der Akten und Bände des Gemeinde- und des Pfarrarchivs den Vorgängen jener Zeit nachzuspüren.

Blicken wir auf die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zurück, so ist es erstaunlich, mit welchem Elan Einwohner und Gemeinde den Ausbau öffentlicher und kultureller Einrichtungen vorangetrieben haben. So erhielt die Kirche 1903 eine "moderne" Ausmalung, 1904 wurde der Turn- und Sportverein gegründet, eine erste Flurbereinigung war 1908 abgeschlossen, 1909 kam der elektrische Strom ins Dorf und 1913 konnte das "Neue Schulhaus" im Burghof fertiggestellt werden.

Und nun wurden auch noch Forderungen laut, eine "Kleinkinderschule" einzurichten. Im Gegensatz zu der durch den Schulhausbau belasteten bürgerlichen Gemeinde stand die Kirchengemeinde diesem Vorhaben aufgeschlossen gegenüber. Als der Tübinger Dekan Faber anläßlich einer Visitation im März 1912 für die Bewilligung der erforderlichen Geldmittel warb, konnte der Kirchengemeinderat auf den schon lange in seiner Verwaltung stehenden "Kleinkinderschulfonds" hinweisen. Diesen Fonds hatte der hier von 1880-1885 wirkende und 1886 in Tübingen verstorbene Pfarrer Karl Ludwig Bender durch ein Legat von 100 Mark begründet. Allerdings war er bis zum März 1912 nur auf 850 Mark angewachsen, was für einen Bau bei weitem nicht ausreichte.

Dem damaligen Ortspfarrer Paul Pfeiffer (hier 1909-1928) kamen aber nun im September 1912 "immer bestimmter auftretende Gerüchte" zu Ohren, die neue Perspektiven zu eröffnen schienen. Es hieß, dass ein "von hier gebürtiger Amerikaner, der, in San Antonio, Texas, ansässig, dort zu großem Reichtum gelangt ist", eine größere Summe "für eine Kleinkinderschule und anderes zu schenken beabsichtigt". In der Tat müssen in der zweiten Jahreshälfte 1912 mehrere Briefe zwischen dem "Amerikaner" Martin Schmid und seinen Freunden und Bekannten in Ofterdingen, besonders dem Schreiner Bernhard Hausch und Pfarrer Pfeiffer den Atlantik gequert haben, deren genauer Inhalt jedoch unbekannt ist.

Im Winter entschloss sich Martin Schmid zu handeln. Seine Bank in San Antonio fragte anfangs Februar 1913 bei der Stuttgarter Bank Stahl & Federer AG an, ob sie bereit sei, den Betrag von US$ 5.000 für den Bau einer Schule in Ofterdingen zu übernehmen und zu verwalten. Das Bankhaus, das auch in Tübingen eine Filiale unterhielt, erklärte sich bereit, die Geldgeschäfte mit der Gemeinde nach den Bedingungen des Stifters abzuwickeln. Der folgende Schriftverkehr zwischen San Antonio, Stuttgart und Ofterdingen bilden nun den offiziellen Beginn des ganzen Unternehmens "Kleinkinderschule Ursulastift".

In den Monaten März bis Juni 1913 stellten sich die Bedingungen und Absichten des damals bereits gesundheitlich geschwächten Martin Schmid klar heraus. Dabei zeigt sich der Einfluss des von ihm sehr geschätzten Pfarrers Pfeiffer darin, daß er auch die Interessen der Kirchengemeinde berücksichtigte. Schließlich wurde alles in einem Schreiben der Stuttgarter Bank vom 5. Juni 1913 mit der Formulierung zusammengefasst "dass das Grundstück sowie die darauf zu errichtende Schule für allgemeine Schulzwecke und auch für kirchliche und christliche Bestrebungen, Religions- und Konfirmations-Unterricht und dergleichen benützt werden soll". Dieses Schreiben von Stahl & Federer ist das einzige Schriftstück, welches quasi als Stiftungsurkunde angesehen werden kann. Die darin enthaltene Zweckbestimmung blieb auch in der Zukunft die einzige Grundlage für die Benutzungsrechte der Kirchengemeinde. Obwohl immer beklagt, erfolgte keine grundbuchrechtliche Absicherung dieser Ansprüche. Weitere Bedingungen von Martin Schmid betrafen die Verwaltung des der Gemeinde geschenkten Geldbetrages.

Am 18. März schrieb Schmid der Stuttgarter Bank, er habe den Betrag von 20.746,89 Mark zum Bau eines Schulhauses in Ofterdingen überwiesen. Diese Nachricht war am 11. April Gegenstand einer lebhaften Gemeinderatssitzung. Der Gemeinderat und später auch der Bürgerausschus zeigten sich damit einverstanden, dass das Bauwesen und die Verwaltung des Geldes der sogenannten Bauaufsichtskommission, bestehend aus Schultheiß Spanagel, dem Kaufmann G.M. Steinhilber, dem Schreinermeister Bernhard Hausch und dem Geometer Albert Schmid, unterstellt wurde. Das Geld sollte in Raten je nach Baufortschritt auf Anweisung des federführenden Schultheißen ausbezahlt werden. Die Dankbarkeit der Gemeinde äußerte sich darin, dass sie Martin Schmid zum Ehrenbürger ernannte. Dies wurde ihm im Dankesschreiben der Gemeinde mitgeteilt.

Der Baubeginn wurde gleichzeitig auf den 1. Juni 1913 festgesetzt. Daher begannen sofort Verhandlungen wegen eines Bauplatzes. Dies muss Bernhard Hausch nach Texas berichtet haben, denn am 22. Mai schrieb Martin Schmid, er habe über seine Bank weitere 3.000 Mark zur Bezahlung des Baugrunds an das Stuttgarter Bankhaus geschickt. Ob er von der Verwendung dieser erneuten großzügigen Spende noch Kenntnis nehmen konnte, ist unsicher. Zwar wurden die Baupläne und das Baugesuch im Juni erstellt, und am 26. Juni berichtete ihm der Schultheiß über das Bauvorhaben und den Kostenvoranschlag. Der einst im Alter von 16 Jahren ausgewanderte Martin Schmid verstarb aber bereits am 17. Juli 1913 im Alter von 74 Jahren. In seinen letzten Tagen äußerte er noch den Wunsch, dass das von ihm gestiftete Schulgebäude - wohl zur Erinnerung an seine Mutter - den Namen "Ursula Stift" erhalten solle. Diesem Wunsch entsprach der Gemeinderat mit einem förmlichen Beschluss.

Der durch die Stiftung finanzierte Bau der Kleinkinderschule ging planmäßig weiter. Im Oktober erwarb die Gemeinde den Bauplatz in den Baumgärten hinter der Kirche, größtenteils von dem Wagner Albert Hausch. Für dessen Bezahlung und später entsprechend dem Baufortschritt hob der Rechner, Kaufmann Steinhilber, die von Schultheiß Spanagel abgerufenen Geldsummen von der Tübinger Bankfiliale ab. Meist waren es mehrere Tausend Mark, die er dabei in Bar nach Ofterdingen transportierte. Das Richtfest konnte am 24. Dezember 1913 stattfinden. Im "Rößle" feierte die Bauherrschaft mit den 17 beteiligten Handwerkern auf Kosten der Stiftung. Die Bewirtung kam auf 24,16 Mark zu stehen, und zwar für

  • 65 Liter Bier à 20 Pfennig für 13,- Mark
  • Vesper mit Brot für 10,20 Mark
  • 16 Cigarren à 6 Pfennig für, -,96 Mark

Zu Beginn des Jahres 1914 war das Rohbau also noch nicht eingedeckt, und noch zu Georgi (23. April) beklagte Pfarrer Pfeiffer den langsamen Fortschritt, weshalb man wohl erst im Herbst fertig werde.

Mit dem Tod des Martin Schmid im Juli 1913 und der Eröffnung des von ihm hinterlassenen Testaments hatte inzwischen jedoch eine neue Ereigniskette begonnen, die Geschichte seiner zweiten Stiftung, des Legats. Wie schon angekündigt, bedachte Schmid auch darin seine Heimatgemeinde mit einer großen Summe. Es war wieder das Bankhaus Stahl & Federer, das am 30. September 1913 Schultheiß Spanagel davon unterrichtete, daß das Legat den Betrag von 21.025 "Mark" umfasse. War diese Summe schon atemberaubend, muß den Ofterdingern erst recht schwindelig geworden sein, als es sich herausstellte, daß es sich nicht um eine Goldmark-, sondern um eine Dollar-Summe handelte. Ein Dollar hatte 1913 nämlich den Wert von 4,20 Goldmark. Aus diesem Grunde dürfte es dem Gemeinderat nicht allzu schwer gefallen sein, mit der Witwe Rosa Schmid und deren Tochter Katie Kattmann, die die Gültigkeit des Legats anfochten, einen Vergleich zu schließen. Dieser kam nach Ablauf der in Amerika vorgeschriebenen Verwaltungsfrist von einem Jahr und langen Verhandlungen im Mai 1915 zustande. Die Ursulastiftung sollte schließlich 15.025 US$ erhalten, wovon nach Abzug von Steuern und Gebühren 14.118,63 US$ übrigblieben. Das waren bei einem Dollarkurs von jetzt 4,70 Mark über 66.000 Goldmark. Die Gelder wurden in Raten aus New York überwiesen, bis im Juli 1916 die Gemeindepflege Ofterdingen alles in Händen hatte.

Die große Dankbarkeit dem verstorbenen Stifter gegenüber fand ihren Ausdruck darin, dass die Gemeinde die Pflege der Grabstätte seines Vaters, des Webers Kaspar Schmid (+ 13. Oktober 1890) übernahm. Sie beauftragte damit die Gärtnerei Johannes Dietter. Außerdem ließ sie 1915 einen Bildhauer den Grabstein renovieren und für Martin Schmid eine Marmorplatte mit vergoldeter Inschrift hinzufügen. Diese Dankespflicht erfüllte die Gemeinde getreulich über beide Weltkriege hinweg. Umso mehr ist zu bedauern, dass auch dieses Grab in den 1950er Jahren abgeräumt wurde.

Währenddessen machte der Bau des "Ursulastifts" im 2. Halbjahr 1914 und im Frühjahr 1915 weitere Fortschritte. Die von Stahl & Federer verwalteten Stiftungsgelder gingen langsam zur Neige. Schon bevor im Juni 1915 die letzte Rate ausbezahlt war, machte sich eine gewisse Nervosität wegen der weiteren Finanzierung breit. Doch Ende Juni traf die erste Rate aus dem Legat in Ofterdingen ein, und fortan konnte die Gemeindepflege bezüglich des Ursulastifts aus dem Vollen schöpfen.

Im September 1914 war die "Kleinkinderschule" immerhin soweit fertiggestellt, dass die "Elektrische Kraftübertragung Herrenberg" die "elektrische Beleuchtungsanlage" installieren konnte, und wohl noch vor dem Winter wurden Türen und Fenster eingesetzt. Im Februar 1915 schloss die Gemeinde mit dem "Mutterhaus für evangelische Kleinkinderpflegerinnen Großheppach" einen Vertrag über die Sendung einer Schwester, wobei Pfarrer Pfeiffer als Vorstand und Leiter des Kindergartens bestellt wurde. Der Vertrag sollte am 1. Mai 1915 in Kraft treten, und in der Tat wurde Schwester Luise Herrmann ab Mai als "Kinderlehrerin" von der Gemeinde bezahlt und das Ursulastift an diesem Tag bezogen. Dies ist also das für die geplante Jubiläumsfeier maßgebliche Datum.

Obwohl anscheinend das Gebäude zu diesem Zeitpunkt fertiggestellt war, ließen die weitere Einrichtung des Kindergartens und auch der Hausrat in der Wohnung der Schwester zu wünschen übrig. Erst im Laufe des Monats Mai begannen die entsprechenden Anschaffungen. Sie betrafen für den Kindergarten Pflegemittel wie etwa das bewährte Bodenöl, Spielzeug wie z.B. Schaukel, Baukasten oder Kindersäbel, aber auch Schreibzeug wie Griffel, Schwämme und Schulkreide. Die Eltern hatten für die Kinder ein "Schulgeld" zu bezahlen. Die unterschiedlichen Beträge von 10, 15 und 20 Pfennigen monatlich hingen vermutlich vom Alter der Kinder ab.

Die folgende Tabelle zeigt einige Daten aus der Schulgeldstatistik:

Kinder zu 10 Pf. 15 Pf. 20 Pf. insgesamt
Mai 1916 18 32 41 91
Oktober 1916 24 34 46 104
Februar 1917 18 32 40 90

Wie von Anfang an vorgesehen, erhielt das "Kleinkinderschulgebäude" auch die Wohnung für eine Krankenschwester. Die Einrichtung der Krankenschwesternstation ließ aber noch über ein Jahr auf sich warten. Die erste Krankenschwester Berta Lankemann wurde auf den 17. November 1916 angestellt und kam vom "Verband für besoldete Krankenpflegerinnen von christlicher Gesinnung", Sitz Pfäffingen. Auch für sie wurden Möbel und der erforderliche Hausrat angeschafft. Von großer Bedeutung für die Gemeinde war die komplette Einrichtung der Krankenpflegestation. Auch sie erfolgte auf Kosten der Ursulastiftung. Die Anschaffungen umfassten neben dem für die Versorgung von kleineren Verletzungen erforderlichen Desinfektions-, Pflege- und Verbandmaterial auch Medikamente und Geräte für die häusliche Krankenpflege.

So diente ein großer Teil von Stiftung und Legat des Martin Schmid dem von ihm so oft beschworenen Wohl der Gemeinde und der Kirchengemeinde. Der Kindergarten besteht noch heute, und es wäre wünschenswert, dass er wieder seinen alten Namen "Ursulastift" erhalten könnte. Die Krankenpflegestation entfaltete noch bis 1992 ihre segensreiche Wirkung. Das Recht der Kirchengemeinde auf Mitbenutzung der Räume wurde im Zusammenhang mit dem Bau des Gemeindehauses in der Rohrgasse im Jahr 1965 durch die bürgerliche Gemeinde abgelöst.

Dagegen musste die Gemeinde erleben, dass nahezu die Hälfte der ihr so großherzig zugewendeten Geldsummen verlorenging. Eine Summe, die die Kosten des Kindergartenbaus weit überstieg, konnte ihre segensreichen Wirkungen für das Ofterdinger Gemeinwesen nicht mehr entfalten. Das um 1920 noch übriggebliebene Stiftungsvermögen, rund 47.000 Mark, fiel bis auf kleine Aufwertungsbeträge der dem Ersten Weltkrieg nachfolgenden Inflation zum Opfer.

Quellen:

  • Gemeindearchiv Ofterdingen:

    A 141, Kleinkinderschule
    A 142, Kleinkinderpflege
    B 29, Gemeinderatsprotokolle
    B 78, Auszug aus dem Grundbuchheft Nr. 275
    B 229, Anmeldungsverzeichnis zur Feuerversicherung 1910-25
    B 242, Leichen-Register 1882ff.
    R 157, 159, 160, 161, 165,170, 175, Hauptbücher der Gemeindepflege 1922, 1924, 1925, 1926, 1930, 1935, 1940
    Pfarrarchiv Ofterdingen:
    Kirchengemeinderatsprotokolle 1910ff.
    Fasz. 25a, Kindergarten Ursulastift
    Pfarrbericht 1914

 Literatur:

  • Albrecht Esche/Karlheinz Lindner, Mein Ofterdingen, Ofterdingen 1993, Seite 44f., Bild Nr. 68.
  • Albrecht Esche, 500 Jahre Ofterdinger Kirchengeschichte, in: 850 Jahre Ofterdingen im Steinlachtal, hg. von Gerhard Kittelberger, Ofterdingen 2000, Seite 246.

Mündliche Mitteilungen von Gärtnermeister Werner Dietter am 20.10.2004.