Turm und Glocken bestimmten den Tag:
Eine ortsgeschichtliche Zeitreise mit der Familie des Ofterdinger "Mesner-Helm"
(Liane von Droste)
Frischgebackene Neujahrskringel in der "Höll", weiße Taschentücher als Signal für den Leichenzug und Kohlen schleppen in der Sakristei: Für die Kinder des früheren Ofterdinger Mesners Wilhelm Steinhilber (1891-1980) war der Alltag bestimmt von Kirche, Turm und Glocken. Sechs Mal am Tag zum Läuten, einmal täglich die schweren Steingewichte für die mechanische Kirchturmuhr per Kurbel hochziehen, jährlicher Großputz vor der Konfirmation. Geschichte pur bot eine Gesprächsrunde mit sechs Kindern des Mesners Wilhelm Steinhilber, die im Jahr 2002 stattfand. Die persönlichen Erinnerungen der sechs Geschwister ermöglichen eine spannende Zeitreise durch den Alltag des Dorfes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Sie haben das Geläut im mehr als 500 Jahre alten Glockenstuhl so oft in Schwung gebracht wie kaum eine andere Familie in Ofterdingen: "die Mesners". 1900 übernahm Gottlieb Steinhilber den Mesnerdienst in der Kirche. Nach dessen Tod 1932 kümmerten sich sein Sohn Wilhelm Steinhilber und dessen Schwester Marie um das Gotteshaus. Erst 1975, im Alter von fast 85 Jahren gab der "Mesner-Helm" die Arbeit in andere Hände ab. Bis heute werden seine Kinder und deren Nachfahren im Ort "die Mesners" genannt.
Aufgewachsen in der Webergasse, mit direktem Blick auf Kirche, Turm und Glocken, bestimmte vor allem das täglich mehrfache Läuten den Alltag der Familie. Ihre Erzählungen und Zeitzeugenberichte stellen ein Stück Ortsgeschichte dar, aus einer "anderen Zeit". Da waren sich Karl und Ernst Steinhilber, Else Nikelski, Irma Hartwich, Käthe Groß und Gertrud Walker-Fuchs einig. Zwei Geschwister, Albert und Anna, starben während des Zweiten Weltkrieges. Ernst Steinhilber starb wenige Monate nach der "Glockenrunde", im November 2003.
Ein halbes Jahrtausend Glockengeschichte
Die Glocken, für deren pünktlichen Einsatz die Mesners ein Dreivierteljahrhundert lang verantwortlich waren, sind älter als die Kirche selbst. Sie haben schon zum Gottesdienst gerufen, als die Reformation in Württemberg noch Zukunftsmusik war: Zwei der vier Glocken der Mauritiuskirche stammen aus dem Jahr 1502. Die eichenen Balken des Glockenstuhles wurden im selben Jahr geschlagen. Dies hat eine so genannte dendrochronologische Untersuchung, bei der über die Jahresringe im Holz dessen Alter bestimmt wird, erst vor wenigen Jahren ergeben.
"1502" haben die Glockengießer der Reutlinger Werkstatt von Jos Eger als Jahreszahl an der Marienglocke und der Elf-Uhr-Glocke angebracht. Die beiden hingen schon an Ort und Stelle, als 1522 der Bebenhauser Abt Johann von Friedingen gleich neben dem mächtigen Turm aus dem Jahr 1479 den Grundstein für das Gotteshaus legte, damit die Kirche endlich ins Dorf kam. Davor waren die Ofterdinger Sonntag für Sonntag zu der alten Pfarrkirche auf dem Berg außerhalb des Orts hinaufgestiegen.
Der volle, wohltönende Klang der Marienglocke ist seit fünf Jahrhunderten im weiten Umkreis zu hören. Nahezu ohne Unterbrechung, denn außer zu einer Reparatur 1983 soll das 22 Zentner schwere Bronzeungetüm den eichenen Glockenstuhl nie verlassen haben. Auch in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts blieb ihr das Schicksal ihrer Glockenschwestern erspart. Einer Glocke von 1753 hatte die Stunde schon im 1. Weltkrieg geschlagen. Ihre Nachfolgerin von 1930 und eine Glocke aus dem Jahre 1686 fielen 1941 der Kriegsmaschinerie zum Opfer. Diesem Schicksal entging die zweite der alten Glocken von 1502, die Elf-Uhr-Glocke, nur knapp.
Ein Riss nach Hindenburgs Tod
Die Marienglocke durfte also bleiben. Nicht zuletzt, weil sie bei Bränden, Sturm oder anderen bedrohlichen Ereignissen Alarm schlagen musste. Die Elf-Uhr-Glocke, die 1941 ebenfalls abgenommen werden musste, tauchte nach Kriegsende überraschend auf einem Lagerplatz in der Nähe von Hamburg wieder auf. Sie wurde 1948 begrüßt wie die vielen Spätheimkehrer, die in ihr Dorf zurückkamen.
1934 verstummte die Glocke von 1686 vermutlich wegen "Überlastung". Karl Steinhilber, damals 15 Jahre alt, erinnert sich genau: Zum Tod des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg im August 1934 mussten die Glocken im Land eine Woche lang jeden Abend von 18 bis 19 Uhr geläutet werden. Eine aus dem Ofterdinger Quartett verweigerte ihren Dienst. Das Metall wurde wohl zu heiß. Ein Riss und Steinhilber, der gerade von dem damals zehnjährigen Georg Haldenwang beim Läuten am Seil abgelöst worden war, hörte es "Scheppern" oben im Turm.
Zu Taufe und Tod brauchte es viele Hände
Taufe, Hochzeit, Tod - Lebensstationen, die bei einem vierstimmigen Geläut im Kirchturm richtig Arbeit bedeuteten. Bei Beerdigungen packten vier Paar Hände in der Läutestube kräftig zu. Meist hatten die Mesner-Kinder dabei Gesellschaft von "Läutebuben" aus dem Ort. Gemeinsam gingen sie in den hohen Raum im Erdgeschoß des Turmes und hingen sich in die Seile. Währendessen begleitete die Trauergesellschaft den Sarg des Verstorbenen von dessen Haus zum Friedhof auf dem Ofterdinger Berg.
Bevor sich der Trauerzug aber in Bewegung setzte, läutete das "Bergglöckle" im Dachreiter des Kirchturms. Das Seil wurde in der Regel vom Dachstuhl aus gezogen, wo Fenster eine gute Aussicht boten. Ein weiterer Helfer postierte sich so im Ort, dass er sowohl den Zug beim Abmarsch sah, als auch dem Mesner oder einem seiner älteren Kinder hoch oben im Turm Signal geben konnte. "Dafür hatte unsere Mutter immer weiße Taschentücher parat", erinnerte sich Käthe Groß. Und ihrer Schwester Irma Hartwich sind bis heute die zeitweilig "tauben" Ohren vom Dröhnen der mächtigen Bronzeglocken im Gedächtnis geblieben.
An "dr Stroß", der heutigen Bundesstraße 27, stand dann schon der Amtsdiener Martin Gimmel bereit, im Ort nur "dr Polizei" genannt. Seine Aufgabe war wichtig: Er musste den wenigen Autos und Pferdefuhrwerken Halt gebieten, damit der Beerdigungszug unbeschadet überqueren konnte.
Des Mesners Macht zum Vesper
Morgenläuten um sechs Uhr, Schulläuten um viertel vor acht, Elf-Uhr-Läuten, Zwölf-Uhr-Läuten, dann noch zum "Vesper" und zum abendlichen Gebet: Die Glocken teilten den Tag ein. Die Stimme der Elf-Uhr-Glocke sollte die Bauern auf dem Feld ans Essen erinnern und, so schmunzelte Karl Steinhilber, gleichzeitig die Frauen zuhause an ihre Pflichten: "Weib, koch!" Beim Vesperläuten allerdings hatte der Mesner Macht: Er entschied - je nach Jahreszeit und Wetterlage - ob um 15, 16 oder 17 Uhr geläutet wurde.
Das "Hopfen" am Seil - für die Dorfjugend ein begehrter Spaß - war für die Mesner-Kinder nicht immer eitel Freude: "Ausschlafen sonntags gab’s da nicht!" erinnerte sich Käthe Groß. Von Urlaub gar nicht zu reden. Schön war’s trotzdem auch: Für Ernst Steinhilber waren die Neujahrsnächte ganz besondere Erlebnisse. Dann brachte "der Binder-Beck", aus seiner Bäckerei in der Froschgasse knusprige Neujahrskringel in den dunklen Turm.
Handkurbel für die Turmuhr
Tag für Tag, so erinnerte sich Irma Hartwich, musste einer aus der Familie auch das mechanische Werk der Kirchturmuhr aufziehen: Mit einer Handwinde kurbelten sie, ihre Geschwister oder der Vater selbst die schweren Gewichte nach oben, die den Lauf der Zeiger steuerten. "Das hat meist der gemacht, der zum Vesper geläutet hat". Die Mesnerstochter erinnerte sich aber auch gut an all die anderen Aufgaben, die zum Kirchendienst der Familie gehörten: Es galt, die Kirche sauber zu halten, für sonntäglichen Gottesdienste, Hochzeiten oder Taufen den Altar zu schmücken und gewissenhaft die Täfelchen für die Lieder-Ansage an der Wand neben der Kanzel aufzusetzen.
Vor allem das Heizen im Winter war ein ordentliches Stück Arbeit: Sonntags sei der Vater morgens um vier in die Kirche, um in den Öfen Feuer zu machen, damit die Gläubigen ein paar Stunden später nicht froren. Das Mesneramt war Nebenberuf. Wenn der beim Telegrafenleitungsbau beschäftigte Wilhelm Steinhilber dienstlich wieder mal mit dem Fahrrad bis in den Schwarzwald zum Einsatz radelte, war seine ledige Schwester Marie dafür verantwortlich, dass in der Kirche alles seine Ordnung hatte.
Sturmläuten zum Löscheinsatz
War die Marienglocke zur "Unzeit" zu hören, bedeutet das meist nichts Gutes: Ein Mensch war gestorben, ein Sturm drohte oder es brannte. Wenn den Mesner die Nachricht von einem Feuer erreichte, eilte er in die Kirche zum Läuten. Dann schwangen sich die Hornisten der Feuerwehr aufs Fahrrad und riefen die Bürger zum Löscheinsatz.
Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die Ofterdinger lange auf den vierstimmigen Klang vom Turm warten. Erst 1958 erhielten die beiden bejahrten Glockenschwestern von 1502 Gesellschaft durch eine Vesper- und eine Schulglocke aus der Glockengießerei Kurtz in Stuttgart. Mit ihnen kehrte die neue Zeit ein: Läutwerk und Turmuhr wurden fortan elektrisch betrieben.
Nur das Bergglöckle auf der Turmspitze wird bis heute noch per Seil in Schwung gesetzt und kündigt den Beginn einer Beerdigung an. Ernst Steinhilber versetzte der Klang nicht selten einen Stich: "Das kann keiner. Das klingt nicht richtig." Karl und Else verrieten den Trick für den erwünschten Doppelschlag des Klöppels: Am Seil "fescht zieha und dann anheba". Erst dann gab’s früher für den Wohlklang ein Lob vom Mesner: "Se duat recht!" - Sie klingt richtig!
Zur Autorin:
Liane von Droste ist Journalistin und lebt in Nehren und in Glienicke bei Berlin. Sie ist eine Enkelin des früheren Mesners Wilhelm Steinhilber. Mit der Geschichte ihres Heimatortes befasst sie sich auch in ihrem Anfang Februar 2008 erscheinenden Buch, für das sie sich auf die Spur der Auswanderer aus der Region begeben hat: Liane von Droste, Lebenswege von Auswanderern. Aus dem Steinlachtal in die Welt - Portraits aus zwei Jahrhunderten. Attempto Verlag, ISBN 978-3-89308-403-6.